London – Teil 2

Wir gabeln meine Schwester auf. Gottlob sind wir alle drei keine Morgenmenschen. Angekommen am Flughafen, dürstet es mich nach einem Kaffee. Mein Vater hingegen meint, man könne doch nicht „MITTEN IN DER NACHT“ einen Kaffee trinken. Womöglich noch von „diesen Halsabschneidern von Schtarbucks“. Seit besagte US-amerikanische Kette eine Dependance im Tal an der Wupper eröffnet hat, ist mein Vater nach nur einem – durch mich initiierten Besuch – erklärter Gegner dieser turbokapitalistischen Unternehmung. Schon bei der Aufgabe der Bestellung und der stetigen Weigerung meines Vaters sich zu erklären, ob er den „Pike Place Roast“ wolle und ob er sein Heißgetränk in „Tall, Grande oder Venti“ möge war klar, dass das Verhältnis zwischen dem Barrista (dieser zu allem Überfluss auch noch volltättowiert und mit langen Haaren) und meinem Vater unkittbar zerrüttet war. Mein Vater wiederholte mehrfach und zunehmend lauter immer wieder nur, er wolle „Einfach nur einen NORMALEN Kaffee!!!!! Aus gemahlenen Bohnen“!!!! Dass er dann auch noch aufgefordert wurde seinen Vornamen zu nennen, brachte das Fass zum Überlaufen. „Den brauchen sie sich nicht zu merken, ich komme sowieso nicht wieder“ war seine durchaus schlagfertige Antwort.

Ich nehme von meinem Kaffee Abstand. Überhaupt wollen wir erst alle Formalitäten hinter uns bringen. Wir stellen uns bei der Sicherheitskontrolle an. Wochenlang haben meine Schwestern und ich meinem Vater gebetsmühlenartig eingetrichtert, was zu beachten ist. ALLE Flüssigkeiten in einen maximal 1 Liter Klarsichtbeutel tun. Klarsichtbeutel muss sich schließen lassen!!! Klarsichtbeutel und alle elektronischen Geräte größer als ein Handy vorher aus dem Koffer nehmen und in eine Box legen. Bereit machen, die Schuhe auszuziehen, Jacke ausziehen und einen etwa vorhandenen Gürtel auch.

Angekommen am Schalter brüllt ein freundlicher Sicherheitsbeamter ALLES bleibe im Koffer. ALLES!!!!! „Bitte NICHT die Flüssigkeiten und auch NICHT die elektronischen Geräte aus dem Koffer nehmen!!!“. Mein Vater schaut uns mit einem mitleidigen „Na ihr habt ja offenbar überhaupt KEINE Ahnung“-Blick an. Die gesamte aufgebaute Töchter-Autorität: Dahin , noch bevor der Ausflug richtig begonnen hat. Nun, so mein Vater spöttisch, könnten wir ja langsam aufhören so zu tun, als sei dies ein Gefangenentransport. Touché.

Wir laufen zum Gate und setzen uns in dessen Nähe in ein Cafe. Meine Schwester und ich müssen – wie es gute Tradition ist – ein VoFluBi (Ein Vor-Flug-Bier) zu uns nehmen. Ich kaufe zwei Cappuccino, zwei Biere (eins ohne, eins mit Alkohol) und zwei Muffins für schlanke 40 Euro. Sorgfältig achte ich darauf, dass mein Vater die Rechnung nicht sieht. Ich möchte nicht, dass er hier im Sicherheitsbereich des Flughafens Düsseldorf seinen zweiten Herzinfarkt erleidet. Mein Vater schüttelt den Kopf. Mitten in der Nacht Bier, so habe er uns an sich nicht erzogen. Der Hinweis meiner Schwester, dass es irgendwo auf der Welt immer vier Uhr ist, hilft nicht weiter.

Frühzeitig begeben wir uns zur „Ausreise“. Die Schlange ist uuuunfassbar lang. Ich werde panisch. Meine Schwester auch. Mein Vater nicht. Er leistet wichtige Erziehungsarbeit, will nämlich eine größere Gruppe holländische Männer (Modell „Finanz-Business-Kasper“) wieder an das Ende der Schlange schicken, die sich unter Hinweis darauf, dass sie „spät dran“ seien nach vorne drängeln wollen. „Junger Mann!!!! Wir sind hier NOCH in Deutschland!!!“.
Wenig später kommt der noch jungfräuliche Pass meines Vaters erstmals zum Einsatz. Gut, dass ihm meine Schwestern schon vor Wochen einen modischen Brustbeutel gekauft haben, in dem er sorgsam Pass und Bording-Pass verstaut hat.

Wir hatten vorher auch erwogen, in diesem Brustbeutel einen Airtag zu verstecken, falls der Vater in London verloren geht, haben von dieser doch recht drastischen Maßnahme dann aber Abstand genommen. Menschenwürde und so. Es soll ja Eltern geben, die die eigenen Kinder rund um die Uhr per GPS orten können. Das ist bekloppt und so einen Unfug fangen wir andersrum gar nicht erst an.

Wir sitzen im Flugzeug getrennt. Meine Schwester neben meinem Vater, ich weiter hinten. Ich kann durch einen Spalt in den Sitzreihen sehen, dass mein Vater offenbar sehr schnell und ohne Unterlass aufgeregt auf meine Schwester und die Sitznachbarn einredet, dabei strahlt er über das Ganze Gesicht. Plötzlich fällt mir ein, dass er jahrelange „Flugsimulator“-Erfahrung hat und ein beeindruckendes Wissen über so ziemlich jeden gängigen Flugzeugtyp. Vermutlich kennt er alle technischen Checklisten auswendig und geht sie nun mit meiner Schwester durch. Bei ihr meine ich aus der Ferne ein nervöses Augenzucken wahr zu nehmen. Sie ist noch weniger Morgenmensch als ich und ein läppisches 0,3 Bier, war offenbar zur Nervenberuhigung nicht ausreichend. Vielleicht hat mein Vater die Hoffnung, dass während des recht kurzen Fluges jemand gesucht wird, der den Vogel heldenhaft landen kann und zu meiner Überraschung stelle ich fest, dass ich bei dem Gedanken ruhig bleibe und meinem Vater das sogar durchaus zutraue. Das muss ich ihm nachträglich noch sagen, als kleine Entschädigung, dass er nicht „kurz mal ins Cockpit schauen und den Piloten Hallo sagen“ durfte. Schade, dass sich die Zeiten insofern in den letzten 25 Jahren zum Schlechteren geändert haben.

Bevor wir starten können, gibt es dann doch noch Aufruhr an Bord. Ein älteres Ehepaar (schwäbisches Aussehen) gestikuliert und tuschelt wild im Gang. Einer der ihnen „ZUGEWIESENEN!!!!“ Plätze ist wohl durch einen ahnungslosen Menschen besetzt. Es wird minutenlang überlegt, was zu tun ist, natürlich ohne den Menschen einfach mal höflich anzusprechen, der die anklagenden Blicke offenbar nicht mitbekommt. Hinter ihnen bildet sich eine Schlange ungehaltener Leute, die versuchen mit ihrem Handgepäck nicht die schon sitzenden Passagiere zu rammen. Hitzige Sitzplatzstreitigkeiten kenne ich ja sonst nur aus der Deutschen Bahn. Gespannt beobachte ich weiter. Das Paar kommt irgendwann zu dem Schluss man müsse das „der Chef-Stewardess“ melden, vermutlich da weder der Anzeigenhauptmeister, noch der Flugkapitän als höhere Instanzen zugegen sind und auch ein ordentlicher Schutzmann nicht greifbar ist. Genervt entferne ich meine Kopfhörer, tippe den Mann an und sage ihm, dass er offenbar auf dem falschen Platz sitzt. Er schaut verdutzt, sagt „sorry“ und rückt einen Platz auf. Ein „Danke Frollein, schließlich muss alles seine Richtigkeit haben“ entschädigt mich für diese kleine Mikro-Intervention. Der Deutsche, man muss ihn lieben. Egal ob Katastrophe von apokalyptischem Ausmaß oder kleine Behaglichkeitsstörung: Er wendet sich vertrauensvoll an die Obrigkeit, denn „Ordnung muss sein“.

Der Flug verläuft ab da an ruhig. Hier und da höre ich die Stimme meines Vaters. Irgendwann taucht auf meiner Seite die Skyline von London auf. Ich sehe das London Eye, Big Ben, die Themse. Keine Wolken, Sonne. Es ist wundervoll. Leider sitzen die anderen beiden Passagiere „auf der falschen Seite!!!“ was mir vermutlich noch jahrelang vorgehalten werden wird. Wir landen (keiner klatscht) steigen aus und gehen durch die immigration. Ich muss natürlich schon wieder so schlimm aufs Klo, dass an planvolles Vorgehen gar nicht zu denken ist. Wir fragen meinen Vater, wie er sich fühlt, zum ersten Mal im Leben außerhalb der EU. „Ja normal halt“. Die Euphorie, sie ist mit Händen zu greifen. „Ganz schön voll hier“ ist das Einzige, das wir aus ihm heraus bekommen. Nach einem kleinen Pipi-Stopp, machen wir uns auf den wirklich, wirklich langen Weg zu den Zügen, die uns nach London hinein bringen werden. Wir laufen über endlos lange Rollbänder und zweigen in den Katakomben mal links und mal rechts ab. „Ihr hättet mir vorher sagen können, dass wir die ganze Strecke laufen“ kommt es aus dem off. Die Ader auf der Stirn meiner Schwester beginnt gefährlich zu pochen. Ich dachte immer MEINE Zündschnur sei kurz.

Dabei sollte mein Vater auf längere Fussmärsche bestens vorbereitet sein, denn er hat uns vor der Reise stolz eröffnet, dass er sich für den Städtetrip ein paar „Sneaker“ gekauft hat. Mich hätte es beinahe vom Bürostuhl gehauen. Meine Erwartungen sind richtig hoch. Mein Vater jedenfalls ist ein wenig entsetzt, wie voll es hier ist. Wo wollen diese ganzen Leute mit ihren riesigen Schrankkoffern nur hin? Diese Frage stelle ich mir auch häufiger. Wir kommen endlich in die Nähe des richtigen Bahnhofes. Die „Elisabeth-Line“ soll es sein. Wir versuchen drei Tickets zu lösen. Der erste Automat nimmt keine Karte, der zweite ist kaputt, der dritte funktioniert. Ich kaufe drei Tickets. Am Drehkreuz dreht sich: Nichts. Ein freundlicher Schaffner erklärt uns, dass wir die Tickets für die falsche Bahn gekauft haben. Na toll. Ich versuche den richtigen Automaten zu finden, mein Vater läuft mit Rollköfferchen schimpfend hinter mir her. Ich finde den Automaten und versuche mich durch den Tarifjungle zu kämpfen. Papa gibt „Tipps“ und will – ohne jedwede Englischkenntnisse – helfen. Irgendwann entfährt mir der Satz, den ich in meiner Kindheit häufig in anderer Richtung von meinem Vater gehört habe: „Wenn Du mir WIRKLICH helfen will, dann hilfst Du mir NICHT“. Offenbar sind wir alle doch nur ein Abziehbild unserer Eltern.

Ausgestattet mit den richtigen Tickets fahren wir in die Stadt. Es ist immer noch traumhaftes Wetter als wir in Paddington ankommen. Wir steigen aus und es ist unfassbar voll. Noch voller als sonst immer. In der großen Bahnhofshalle summt es wie in einem Bienenstock. Um die riesige Auskunftstafel scharen sich hunderte Menschen. Wir warten auf meine andere Schwester. Mein Vater schaut interessiert auf das bunte Treiben. Hin und wieder schüttelt er den Kopf. Grund sind ganz übliche Großstadt-Phänomene. Leute die fast nichts tragen, ein Mann im Lackmantel auf High-Heels. Eine sehr dicke Dame in einem sehr dünnen, hautengen Ganzkörperbody, der mehr oder weniger komplett durchsichtig ist. Eine Dame, die in einem Einkaufswagen 10 kleine Hunde rumschiebt. Mir fällt ein, dass mein Vater echt lange nicht mehr in einer wirklich großen Stadt war. Ob nun London oder Berlin: Das muss man erstmal verpacken und sich daran gewöhnen. Auffällig viele gutaussehende Männer in Tweedanzügen und mit Sixpacks (also in diesem Fall Bier, keine Muskeln) stehen herum. Sie fahren – wie sich hinterher herausstellt – zu einem traditionellen Pferderennen im Umland. Wir laufen – als die Schwester dazugestoßen ist und uns angeherrscht hat, dass wir „typisch deutsch im Weg rumstehen“- Richtung Hotel. Nicht ohne dem Vater seinen Trolley abzunehmen und ihm einzuschärfen vor dem Kreuzen einer Straße zuerst nach rechts zu blicken.

Autor: bravenewworld84

Introvertiert und trotzdem Rampensau, sensibel und trotzdem manchmal mit dem Holzhammer unterwegs. Volljurist auf der Suche. Es war immer mein Traum, beruflich im Sektor „Spaß“ tätig zu sein. Ich kann mir keine edlere Beschäftigung vorstellen, als Menschen zu unterhalten und vom -nicht immer angenehmen- Alltag abzulenken. Gemütlichkeit ist mein zweiter Vorname.

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